Mittwoch, 5. Juli 2017

documenta - Start am unterirdischen Kulturbahnhof

Welcome in Kassel - hier, am in Kürze nicht mehr existenten unterirdischen Bahnhof soll die Exkursion, die Entdeckung der documenta 14 beginnen.

Let's go underground... Der Künstlerische Leiter Adam Szymczyk schlägt einen Parcours für den Besuch der documenta 14 in Kassel vor. Nicht nur wenn man um die Bedeutung des heutigen Kulturbahnhofs weiß, von dessen großer Zeit die herrlichen Bali-Kinos noch immer zeugen, leuchtet dies ein. Zwar hat man Probleme, sein Gepäck hier irgendwo zu verstauen, aber mit Humor kommt man weiter...

Also Szymczyks Parcours beginnt hier, am Kulturbahnhof, einer Ikone der 1950er und 1960er Jahre in Kassel. Zeiten, in denen die (Kunst-)Welt hier ankam - mit dem Zug. Auch fernab von der documenta waren hier und in den mondänen Hotels um die Ecke die Kinostars zu Gast. Filmstars reisten zu den Deutschlandpremieren ihrer jüngsten Produktionen hier an. Auch die meisten Gastarbeiter dürften hier zunächst angekommen sein...

Bedenkt man, was Szymczyk zu Beginn in Kassel im Rahmen seiner Einleitung im Jahre 2013, seiner ersten, öffentlichen Vorstellung des 'learning from Athens' Konzeptes sagte, ist dies eine konsequente Entscheidung. Kassel ist eben nicht nur der inzwischen so begehrte Vordere Westen oder die verstaubte, aber noch immer wohlhabende Wilhelmshöhe und der Herkules...


100% Kassel, der Charme der 1950er, 1960er und späten 1970er, teils marode, teils sanierte Bauten, viele Baustellen und Verkehr, der Fußgänger gern in den Untergrund schickt. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau. Die Stadt verabschiedet sich zunehmend sichtbar von ihrem lange gültigen Zonenrandgebiet-Mauerblümchen-Klischee und boomt. Immobilienhaie haben das schon Jahren erkannt. Hier am rechten Rand dieser Aufnahme der Zugangcontainer, also ab in den Untergrund.

Hier den Startpunkt zu setzen, an einem geisterhaften Bahnhof, inmitten von Spielhalle, Burgerking und Handwerkskammer ist ein interessantes, kluges Statement. Statt wie Jonathan Barofskys 'man walking to the sky', ein von vielen Bürgern der Stadt als Himmelsstürmer geliebtes Überbleibsel der documenta IX von Jan Hoet, gehen wir in den Untergrund.

Schon der Eingang mutet seltsam an. Über den ehemaligen Eingang zum unterirdischen Bahnhof auf dem Vorplatz des heutigen Kulturbahnhofs haben die documenta-Macher einen handelsüblichen Container gestellt. Keine Farbe, kein Kaschieren - ein ehrliches Statement. Dort geht man hinein und gelangt - dank des entfernten Bodens der stählernen Ikone postmodernen Transports oder der sogenannten Globalisierung? - zur Treppe, die in den Untergrund führt.


Auf den ersten Blick ein Kunstwerk, mit dem Zweiten sieht man aber besser bzw. deutlich, dass es doch kein documenta 14 Beitrag ist. Obwohl der Titel doch recht gut ins politische Programm der diesjährigen Ausgabe passt...


Seltsam zeitgemäß mutet die seit über 10 Jahren stillgelegte, unterirdische Bahnstation trotz des Staubes und der eingerosteten Rolltreppen an. Wie in einem Horrorfilm. Eine perfekte Kulisse für das zuletzt wieder beliebte Zombiegenre... Nur die alten Plakate und Mülleimer, deren Typ sich im heutigen Kasseler Stadtmobiliar kaum noch findet, zeugen vom Beginn des Stillstands an diesem Ort. 

Hier unten, auf der Zwischenetage, die zu den beiden Gleisen führt, findet man auch ein historisches Kunstwerk: Die "Gläserne Stadt" des Arnold Bode-Schülers Dieter von Andrian. Leider fehlt dem Werk der Titel documenta-Kunstwerk. Es ist eine gläserne Wandarbeit, ein Stadtplan und eine Schande für eine Stadt, die alle 5 Jahre viel Geld für den Ankauf von Kunstwerken ausgibt, dieses Werk aber in Kürze mit dem gesamten unterirdischen Bahnhof zur Freude zukünftiger Archäologen zuschütten will...

Apropos: Zum Glück hat der inzwischen legendäre, ''Unten'' genannte Club nach dem Abriss des von der documenta 13 und anderen kreativen Bürgern der Stadt genutzten Nordbahnhofs einen passenden Alternativstandort gefunden. Hier unten, an diesem wie die Faust auf's Auge passenden Ort, wäre der Club sicher auch sehr gut aufgehoben. Denn Notausgänge und Lärmschutz wären hier wohl kein Problem, auch das Kunstwerk von Andrian wäre ein passender Einstieg für den Club... 


Ist das Kunst oder kann das weg? ''Begehrt auf, das Leben ist es wehrt'' schrieb ein anonymer, kunstaffiner Mensch vor oder um 2005 hier. Wir meinen, dieser Mülleimer ist ein Fall für's Kasseler Stadtmuseum, sollte die Bahnstation wie angekündigt wirklich verschüttet werden...

Auf der oberen Ebene des Untergrundbahnhofs befindet sich auch die ''Monday'' (2017) genannte Arbeit von iQhiya, eine Performance, die leider nur einmalig am 11. Juni stattfand, eine Installation mit Schulbänken und einer Videoprojektion. 

Nach dem wir den Schnitt im Videoloop erkannt haben, die Notizen entziffert und so ausreichend Hinweise für Spekulationen über
iQhiyas Intentionen gesammelt haben, gehen wir von hier aus die Treppen hinab, flankiert von den beiden stillgelegten Rolltreppen. Hier begegnen wir der ''The Course of Empire'' (2017) genannten, Vierzehnkanal-Digitalvideo-Installation von Michel Auder.  


Ein Still der ''The Course of Empire'' (2017) genannten, Vierzehnkanal-Digitalvideo-Installation von Michel Auder.

Quinn Latimer schreibt zu Auders Arbeit das Folgende: ''...Imperien, mit ihren schwachsinnigen Familien und kolonialistischen Invasionen, mit Landraub und der Ausbeutung von Ressourcen, sind keine Phänomene unserer Zeit. Ebenso wenig wie die imperialistische Instrumentalisierung von (Bild-)Sprache. Auders neue Videoinstallation ''The Course of Empire'' beruht auf einer Gemäldeserie gleichen Titels, die Thomas Cole von 1833 bis 1836 schuf. 

Ein „Textfilm“, bestehend aus iPhone-Bildern mit Schriften von James Baldwin, Donna J. Haraway und Arthur Rimbaud. The Course of Empire enthält zudem Auszüge aus dem Buch Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents, in dem sich Alexander von Humboldt mit dem Thema Sklavenhandel auseinandersetzt. 

In Auders Film notiert Humboldt: „[D]er Sklave [bleibt] in der Einsamkeit einer Pflanzung oder eines Pachthofes den größten Mißhandlungen preisgegeben, wenn auf demselben ein roher capataz, mit einem Buschmesser (machete) und einer Geißel, unbeschränkte Gewalt und Herrschaft übt!“ Und: „Der Matrose, auf der einsamen Seefahrt zu andauerndem Gehorsam gezwungen, übt gerne eine grausame Herrschaft gegen Thiere aus, sobald sich dazu Gelegenheit darbietet.“ Imperium und Sprache und all die Körper dazwischen.''

Zwei weitere Künstler bespielen mit ihren Arbeiten diesen ungewöhnlichen Ort, den wir als Auftakt für die Erkundung der documenta empfehlen möchten. Überhaupt macht dieser Start Lust auf mehr. Hat man alle Arbeiten gesehen, geht man dem Licht am Ende des Tunnels entgegen, dann geht es im Sinne
Szymczyk weiter. In die bunte, spannende, weil ehrliche Nordstadt, weiter über den klassischen Friedrichsplatz mit den etablierten documenta-Institutionen und Groß-Installationen, dann weiter in Richtung Süden bis zu der Torwache, dem unvollendeten Tor zur Stadt...

Zum Schluss hier zur Vor- und Nachbereitung die documenta 14-Links zu den Beiträgen aller Künstler_innen, die in der unterirdischen Bahnstation am Kulturbahnhof zu sehen sind:
 

Michel Auder
Nikhil Chopra
iQhiya
Zafos Xagoraris


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