Freitag, 16. September 2016

New York: Maurizio Cattelan - America - Kunstgeschichte am stillen Ort

Ein Screenshot der Website von Deutschlandradio Kultur zeigt ein Werk, an dem sich aktuell die Geister streiten: Maurazio Cattelans jüngste Intervention im Guggenheim Museum, fast 100 Jahre nach Duchamps Fountain... Kunstkritiker Carsten Probst berichtet und bewertet das Werk © Maurazio Cattelan / William Edwards / AFP und Deutschlandradio Kultur

New York hat eine erstaunliche (Kunst-) Attraktion mehr: Der erste öffentliche, stille Ort mit goldenem Sitzklosett. Natürlich handelt es sich bei dem America genannten Kunstwerk von Cattelan um eine typische Tiefspültoilette amerikanischer Bauart...
 

Diesem Kunstereignis, fast genau 100 Jahre nachdem Marcel Duchamp in New York sein Fountain genanntes Kunstwerk auf einer Kunstmesse präsentierte, wollen wir uns natürlich ausführlicher widmen. Denn es ist - wie Kritiker Carsten Probst formuliert – eine der wenigen kunst(markt)kritischen Arbeiten, die – obwohl es zunächst banal erscheint – ein breites Publikum erreicht.

Neben dem Fountain Geniestreich von Duchamp in New York im Jahre 1917 kann im Zusammenhang mit der aktuellen Arbeit von Maurizio Cattelan auf eine ganze Traditionslinie von Toiletten oder auch Fäkalien in der Kunst des 20. Jahrhunderts verwiesen werden. Sehr schön und ebenso kunstmarktkritisch wie die Aktion von Cattelan  ist die seines Landsmannes Piero Manzoni, dessen berühmte merda d’artista (Künstlerscheiße) Edition von 1961.

Fantastische Magie der Kunst: Scheiße als Gold verkaufen?
 

Manzoni füllte jeweils 30 g seiner eigenen Fäkalien in 90 Dosen und verschloss sie geruchsfest. Dann nummerierte er sie von 001 bis 090 schrieb merda d’artista oder auch Künstlerscheiße darauf. Anschließend verkaufte Piero Manzoni zum damals aktuellen Goldpreis für 30 g (ca. 37 Dollar). Man darf davon ausgehen, dass der Kunstmarkt den Goldpreis überholt hat und die wahrhaftige merda d’artista eine renditeträchtige Investition war.

Skandalöse Transformationen II: Klärschlamm und Minimal Art
 

Ähnlich, wenn auch im größeren Stil, ging der seit einigen Jahren in Frankfurt am Main lebende Paul McCarthy-Schüler Mike Bouchet vor. Aber dessen Manifesta-Beitrag scheint – zeitgemäß weniger vom Geniekult beeinflusst als die Dosen Manzonis aus den 1960ern. Bouchet Werk scheint eher für moderne, finanziell sehr potente Sammler geschaffen und zugleich basisdemokratischer. Denn Bouchet betont, dass seine Manifesta 11- Arbeit eine Kollaboration mit der gesamten Bevölkerung der Stadt Zürich sei:

Alle, die am 24. März 2016 in Zürich eine Toilette benutzten, haben Anteil an der rund 80 Tonnen schweren, bis vor wenigen Tagen im Löwenbräukunst ausgestellten Installation von
Bouchet. In Kooperation mit der Wasseraufbereitungsanlage Werdhölzli verwandelte der Künstler die Ausscheidungen der Züricher Bevölkerung in Kunst.

Hommage an Manzoni oder Andre oder Delvoye?


Bouchet fertigte aus der täglich anfallenden Menge an Fäkalien und Klärschlamm massive Blöcke, die durch ihre Form, Farbe und Anzahl sowie die Inszenierung minimalistisch anmuteten. Daher spricht Karlheinz Schmid von einem Carl Andre aus Klärschlamm. Und nur dank einem ‚eigens entwickelten Duftstoff‘, so verlautet die Manifesta, sei der Geruch im Ausstellungsraum erträglich. Schade eigentlich...

Auch Wim Delvoyes berühmte Versuche, die menschliche Verdauung maschinell zu rekonstruieren oder Paul McCarthys wie Otto Muehls orgiastische Performances können an dieser Stelle erwähnt werden. Doch angesichts der Installation Cattelans wollen wir erneut an Duchamps geschickt inszenierten, die Kunst des 20. Jahrhunderts prägenden Skandal in New York vor rund 100 Jahren erinnern.

Zensur in juryfreien Ausstellungen 


So wurde das Werk Duchamps im Rahmen einer ausführlichen Besprechung in der legendären Zeitschrift The Blind Man abgebildet. Die Bildunterschrift lautete: "Fountain by R. Mutt, Photograph by Alfred Stieglitz, THE EXHIBIT REFUSED BY THE INDEPENDENTS". Quelle: wikimedia / The Blind Man No. 2, page 4. Editors: Henri-Pierre Roche, Beatrice Wood, and Marcel Duchamp. Published in New York, May 1917

Mit seinem Readymade ‚Fountain‘ gelang es Duchamp, die vermeintlich liberale Kunstszene vorzuführen. 1917 reichte er für die International Exhibition of Modern Art im New Yorker Grand Central Palace, die bis dahin größte Ausstellung zeitgenössischer Kunst in den U.S.A, ein abgesehen von der Signatur unverändertes, gebrauchtes Pissoir ein. Doch da Duchamps Name in den Avantgardekreisen damals bereits berüchtigt war, wurde das Werk unter dem Pseudonym R. Mutt eingereicht.

Die natürlich einsetzende, heftige Diskussion über Fountain in dem angeblich juryfreien Kuratorium heizte Duchamp, der selbst als ‚Hängekommissar‘ Teil der Jury war, hinterlistig an. Als man sich entschieden hatte, ‚Fountain‘ nicht auszustellen, sorgte der Künstler dafür, dass die juryinterne Debatte in die Öffentlichkeit gelangte.

Performativer Kunstskandal mit nachhaltiger Wirkung
 

Gemeinsam mit seinem Freund Alfred Stieglitz und dem einflussreichen Sammler Walter Arensberg inszeniert er den Skandal so geschickt, dass man die Aktion wohl auch als eine Performance lesen kann. Duchamp Kenner Arturo Schwarz beschreibt die einer klassischen Intrige ähnelnde, perfekte Inszenierung wie folgt:

„Duchamp tells how Walter Arensberg, hearing of the incident [die Zensur], went to the Independent Show and asked to see ,the Fountain by R. Mutt’. Attendants called officials. The officials said that they had never heard of it. ,I know better than that’, said Arensberg. His next remark stunned the officials. ,I want to buy it’, he said calmly. Still it could not be found. Thereupon Duchamp and Man Ray, poking around, discovered the offending object behind the partition. They called to Arensberg, who took out his checkbook and announced that he would buy it sight unseen. ,Fill in the amount yourselves’ he said, and then required the urinal to be brought out and carried in plain view through the crowded galleries.“

Das Readymade galt schon bald als ein Jahrhundertwerk und Duchamp zu Recht als Meister einer in ihrer Vielschichtigkeit kaum absehbaren, subversiven wie humorvollen Kunst. Ähnlich dem jetzt installierten, goldenen Sitzklosett Cattelans in New York irritierte Duchamps Urinoir, rüttelte am Kunstverständnis des Publikums (und der damaligen Experten) und stellte auf diese Weise das Selbstverständnis und die Kondition Kunst- und Ausstellungsbetriebs in Frage.


In diesem Sinne schließen wir uns Carsten Probsts Formulierung von einer der wenigen kunst(markt)kritischen Arbeiten, die obwohl sie banal erscheint, ein breites Publikum erreicht, gerne an. Denn der eigentliche Skandal ist doch eher, dass es rund 100 Jahre nach Duchamp und Co. und den wilden (Kunst-)Jahren des ausgehenden 20. Jahrhunderts noch immer so viel Bedarf an elementarer Kunstvermittlung gibt. Dass das Projekt Aufklärung ein nicht abgeschlossenes sei, ist weitläufig bekannt.  

Doch dass die Kunst des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart auf ein nach wie vor so leicht zu erregendes Publikum trifft, sollte zu denken geben. Wie auch immer. kunstlich.com freut sich auf eine Postkartenkritik (PKK) aus New York mit einem Bericht von der nun im MoMA möglichen, dank Cattelan besonders exklusiven Kunsterfahrung und belohnt den Absender mit einer Publikation.

Service Links
- das Guggenheim über seine neue, goldene Toilette von Cattelan, hier
- Kunstkritiker Carsten Probst im Interview über Maurizio Catellans Werk, hier 

- Gerd Mörsch: Über die Kunst der Provokation, hier 
- Christoph Schütte über Mike Bouchet (2014), hier
- die Website der manifesta 11 zu Mike Bouchet, hier
- eine detailliertere Beschreibung der Kunstskandale Duchamps findet sich in der Publikation Die Falle in der Kunst des 20. Jahrhunderts, hier

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