Montag, 12. September 2016

Berlin: Digging Deep, Crossing Far und die vergessene Geschichte vom deutschen Dschihad


Ein Screenshot der Website des Kunstraums Kreuzberg / Bethanien zur Ausstellung Digging Deep, Crossing Far in Berlin © Kunstraums Kreuzberg / Bethanien

Diese Ausstellung passt wie die sprichwörtliche Faust auf's Auge all derer, die einfache Antworten auf die drängenden Fragen der aktuellen Integrationsdebatte haben. Und somit schließt sie somit perfekt an unseren letzten Beitrag über diese, teils schleicherhaften Debatten an. 

Während des Ersten Weltkriegs wurde vom Deutschen Reich in Zossen bei Wünsdorf ein Lager für außereuropäische, vor allem muslimische Kriegsgefangene aus den britischen und französischen Kolonien geschaffen. 

Hier wurden die Internierten wie Exoten zur Schau gestellt und dienten deutschen Wissenschaftlern gleichzeitig als Forschungsobjekte, um die Kultur und Sprache der Gefangenen zu studieren. Im Archiv der Berliner Humboldt-Universität finden sich rund 1650 Tonaufnahmen der Gefangenen, die der Sprachwissenschaftler Wilhelm Doegen 1915 und 1916 für seine Forschungen aufnehmen ließ. 

Eine Aufnahme der Multimedia-Installation der pakistanischen Künstlerin Bani Abadi für die documenta 13 in Kassel (2012). Für die aktuelle Berliner Ausstellung hat sie die Klanginstallation "Memorial to Lost Words" geschaffen. © Bani Abidi, Foto: Gerd Mörsch

Die Kuratorin Julia Tieke entdeckte die Archivalien vor einigen Jahren und war sofort fasziniert von deren Geschichte. Schnell entwickelte sie die Idee, das Material von zeitgenössischen Künstlern aus jenen Ländern bearbeiten zu lassen, aus denen die Soldaten kamen.

Geh nicht, geh nicht, oh mein Freund, nur die Dummen packen und gehen fort, oh Liebster, Allah gibt Brot und Arbeit im kühlen Schatten Deines eigenen Landes …
 

So sangen die Frauen, um ihre Männer vom Auszug in den fernen Krieg in Europa abzuhalten. Und die in der Berliner Ausstellung vertretene Künstlerin Bani Abidi hat sich mit diesen Liedern beschäftigt. Sie nennt ihren Beitrag Memorial to Lost Words und beschreibt ihre Arbeit wie folgt: 

"Die Stimmen der Frauen stammen aus dem Archiv eines Dichters, den ich getroffen habe, er hat diese alten Lieder gefunden, die vor hundert Jahren gesungen wurden. Aber es gab sie nur noch in Versform. Er hat sie mir auf Papier gegeben, und da habe ich beschlossen, sie neu einsingen zu lassen. Hundert Jahre später war es, als seien die Geister dieser Frauen auferstanden. Das Lied der Männer ist ein neues Gedicht, aber es basiert auf den alten Feldpostbriefen." 


Noch eine Aufnahme der Multimedia-Installation von Bani Abadi für die documenta 13 in Kassel (2012). Im Kulturbahnhof bespielte sie einen Raum mit einem Mehrkanal-Video, das die Geschichte eines Bildhauers erzählt, der für einen Alleinherrscher eine monumentale Statue erschaffen soll. © Bani Abidi, Foto: Gerd Mörsch

Doch die kuriose Geschichte des Lagers für außereuropäische Kriegsgefangene geht noch weiter. Im Lager wurde die erste Moschee Deutschlands erreichtet und diese war – wie der ganze Ort Teil der speziell für den Orient entwickelten Dschihad-Strategie, mit der das Deutsche Reich die muslimischen Völker überzeugen wollte, sich den Deutschen anzuschließen und sich gegen die anderen Kolonialmächte zu erheben.

Von Kriegsgefangenlager mit Moschee zum Erstaufnahmelager...


Noch heute
Ironie des Schicksals oder skandalöser Zynismus? – findet an diesem Ort die Auseinandersetzung mit außereuropäischen Kulturen statt. Hier steht nun ein Erstaufnahmelager für Flüchtlinge. Diese unheimliche Kontinuität erinnert an die Geschichte der Exklusion an einem zentralen Ort der documenta 13, das ehemalige Benediktinerkloster Breitenau, das Gefängnis, Konzentrationslager und später das Mädchenerziehungsheim war, das Ulrike Meinhof zum Drehbuch für ihr Fernsehspiel Bambule inspirierte.

Die Berliner Ausstellung erlaubt einen fanszinierenden Blick auf die zeitgenössische, indische und pakistanische Kunstszene und liefert inspierende wie poetische Perspektiven. Wer weiß, vielleicht ist einer jener Flüchtlinge, die in Zossen bei Wünsdorf gerade auf den Bescheid über ihren Asylantrag warten, ja ein Urenkel eines muslimischen Kriegsgefangenen, der vor 100 Jahren sein Glück in Europa suchte. It's such a small small world...

Service / Links
- die Website zur Ausstellung Digging Deep, Crossing Far, hier
- Christiane Habermalz über die Ausstellung Digging Deep, Crossing Far, hier
- das Tentative Collective (Pakistan) über das von ihnen konzipierte Ausstellungsprojekt Digging Deep, Crossing Far. Hajra Haidar, Yaminay Chaudhri und Fazal Rizvi im Gespräch, hier
- Deutschlandradio Kultur: Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen - Die Stimmen der Welt, hier
- Deutschlandradio Kultur: Vor 100 Jahren - Die erste Moschee in Deutschland, hier
- Deutschlandradio Kultur: Erster Weltkrieg - Das Deutsche Kaiserreich und der Dschihad, hier

- kunstlich.com-Ausstellungstipp zu Bani Abidis Arbeit für die documenta 13, hier 
- die Website der Künstlerin Bani Abidi, hier
- aktuell: Die Angst vor den Dschihadisten in Frankreich – Salman Rushdie berichtet von seinem Umgang mit der Angst, hier

Keine Kommentare: