Freitag, 27. Oktober 2017

Kunst sei Dank: Kein Deckel über dem NSU-Komplex - ein Blick von außen...

Ein Screenshot der Website des britischen Magazins The Intercept © The Intercept Foto: Andreas Arnold/picture-alliance/dpa/AP

Wir hatten im totalen Kunst-Sommer ausführlich über die documenta 14 berichtet, neben den Skandalen um finanzielle und organisatorische Ungereimtheiten ging es aber auch um Kunst. Ein Werk war auch außerhalb des Kunstkosmos von großem Interesse, es schaffte den Sprung in politische Institutionen und Diskussionen...

Dank einer Vielzahl von privaten Initiativen ist die Aufklärung der NSU-Mordserie nicht abgeschlossen und vergessen. Die Kette staatlichen Versagens bzw. nachweisbarer Vertuschung ist angesichts der Bedeutung des größten Neo-Nazi-Skandals in der Geschichte der BRD beängstigend. Denn hier steht das demokratische Selbstverständnis der Gesellschaft, der Glaube an die Neutralität und Wirksamkeit von zentralen staatlichen Behörden auf dem Spiel.

Hintergrund

Es waren die mutigen Aktionen der schockierten Angehörigen der Opfer, die den Blick der Öffentlichkeit auf die Mordserie lenkten. Denn die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft konzentrierten sich fast ausschließlich auf die Familien der Opfer und ihr direktes Umfeld. Das zunächst vorhandene Vertrauen der Angehörigen der Opfer in staatliche Behörden wurde auf diese Weise nachhaltig geschädigt. Abgesehen von Entschuldigungen und Versprechungen - u.a. von oberster Stelle in Person Angela Merkels - ist bisher leider nicht viel geschehen.

Vor über 11 Jahren, am 6.5.2006, nur einen Monat nach dem Mord an dem 21jährigen Halit Yozgat organisierte seine Familie mit anderen betroffenen Familien in Kassel und Dortmund Trauerdemonstrationen unter dem Motto „Kein 10. Opfer“. Rund 4.000 Menschen nahmen an der Demonstration in Kassel teil. Denn die Familien wussten zu diesem Zeitpunkt schon, dass die Mordserie explizit rassistisch motiviert war, und trugen dieses Wissen in die Öffentlichkeit.

Amnesty International wirft Angela Merkel gebrochene Versprechen im Kontext der Aufarbeitung des NSU-Komplexes vor

Bis zur Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2011 wurde der Protest der Betroffenen und ihrer Communities gesellschaftlich und medial kaum wahrgenommen und meist ignoriert. Auch während der noch laufenden juristischen und polizeilichen Untersuchungen berichteten die traumatisierten Familien wiederholt über Erfahrungen des silencing, des Zum-Schweigen- gebracht-Werdens. 

Der Begriff NSU-Komplex beschreibt ein Konglomerat aus rechtsextremem Terror sowie institutionellem und strukturellem Rassismus in der heutigen deutschen Gesellschaft. Bereits vor der Eröffnung der documenta tagte in Köln das NSU-Tribunal, eine Zusammenarbeit des Schauspiels Köln mit dem Maxim Gorki Theater, den Münchner Kammerspielen, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Akademie der Künste der Welt/Köln und dem HAU Hebbel am Ufer.

Komplexe Sache: Persönlichkeitsrechte von V-Männern und -Frauen

Das Tribunal ist ein Projekt des Aktionsbündnisses „NSU-Komplex auflösen“, eines Zusammenschlusses bundesweiter Initiativen in Verbindung mit den Betroffenen des NSU-Terrors. Hier wurden erstmals die Ergebnisse der Untersuchungen und Recherchen zum Mord an Halit Yozgat präsentiert, die im Sommer dann im Kontext der documenta 14 erneut in Form einer dokumentarischen Videopräsentation gezeigt wurden.

Dank dieser Präsenz der Arbeit der Gesellschaft der Freund_innen von Halit wurde der Fall Halit Yozgat erneut in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt. Der für den Fall zentrale, ehemalige V-Mann Temme, der nun bei der Stadtverwaltung Kassel arbeitet, sagte in einer erneuten Vernehmung zum Fall aus, er habe von der Videoarbeit im Rahmen der documenta gehört und fürchte um seine Persönlichkeitsrechte... 

Der von der Videopräsentation im Kontext der documenta 14 wieder bekannt gewordene Fall sorgt nun auch im Ausland für wiederbelebtes Interesse an dem Fortgang der Aufklärung des NSU-Skandals. Ein Blick von außen tut immer gut und in diesem Sinne möchten wir an dieser Stelle den sehr informativen Artikel von Robert Mackey für das britische Magazin The Intercept empfehlen...

Links
- Robert Mackey berichtet für das britische Magazin The Intercept über den V-Mann Temme und den NSU-Skandal, hier
- kunstlich.com über das NSU-Tribunal in Köln (Mai 2017), hier 
- und nochmal mit vielen Kommentaren und Links, kunstlich.com über das NSU-Tribunal in Köln (Mai 2017), hier
 - mehr Informationen über die Gesellschaft der Freund_innen von Halit auf der documenta 14-Website, hier
- Der Spiegel über die Amnesty International-Vorwürfe gegenüber Angela Merkel im NSU-Kontext, hier

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