Freitag, 15. Juli 2016

Kritik: Tony Cragg - Parts of the World - Retrospektive – noch bis zum 14. August

Ein Screenshot der Website des Museums zur Ausstellung Tony Cragg - Parts of the World © Von der Heydt Museum / Tony Cragg / VG Bild-Kunst Bonn
Die umfangreiche Retrospektive Tony Cragg - Parts of the World ist noch bis zum 14. August im Wuppertaler Von der Heydt Museum zu sehen. Dass es eine besondere, auch umstrittene Ausstellung ist, hat viele Gründe: Zum einen Cragg lebt seit Jahrzehnten in Wuppertal...

...zum anderen hat der Künstler gerade erst (s)einen 'Waldfrieden' genannten Skulpturenpark eröffnet, siehe dazu die Service-Rubrik ganz unten. Cragg selbst hat mit seinem Team die Ausstellung einrichten dürften und zum ersten Mal in der Geschichte des Wuppertaler Von der Heydt Museums wurde das Gebäude für eine künstlerische Position komplett leer geräumt.

Aufgrund dieser vielen Extrawürste hat der Skulpturenpark trotz seines friedlichen Namens in der arg gebeutelten Kunststadt Wuppertal nicht nur Freude und Freunde hervorgerufen. Wer mit dem Zug in die einst so stolze, aufgrund ihrer Kultur und der Schwebebahn berühmte Stadt fährt, spürt sofort, dass hier einiges seit langer Zeit schief oder zumindest aus dem Ruder läuft. Der Bahnhof ist seit Jahren in einem derart desolaten Zustand, dass alle, die dort ankommen, den trostlosen Ort so schnell wie möglich verlassen oder vermeiden, den Bahnhof überhaupt anzusteuern. 

Doch kommen wir zurück zur Kunst, zu Tony Cragg und seiner umfassenden Retrospektive. Für alle, die das Werk kaum kennen, ist der im ersten Geschoss auf großer Leinwand laufende Film ein hilfreicher Einstieg. Auch wenn die Tonspur - oder sind es die Lautsprecher? - leider zu wünschen übrig lässt...

Der Film ermöglicht dem Interessierten, einen von Craggs Erläuterungen begleiteten Rundgang durch seine Werkstätten. Viele der im Museum ausgestellten Arbeiten kann man hier vorab sehen, den Entstehungsprozess ähnlicher Werke ausschnitthaft verfolgen und so der so typischen Formsprache Craggs auf die Schliche kommen.

Ein Blick in die Kunstfabrik

Zudem erlaubt die filmische Dokumentation einen tiefen Einblick in seine Werkstätten, zeigt die vielen für Cragg tätigen Künstler, sogenannte Assistenten, die die Wünsche und Ideen des Altmeisters in Form bringen. Ohne diese zahlreichen Künstler, wäre die immense Produktion des international gefragten, britischen Künstlers nicht möglich. 

Die Vielzahl der meist sofort als Cragg-Arbeiten erkennbaren Objekte in den Museen und Konzernlobbys auf der ganzen Welt sind das Ergebnis einer äußerst professionellen Kunst-Produktionsstätte in industriellem Maßstab. 

Massenproduktion statt Kunstwerk bzw. Unikat unken daher viele Kritiker. Ist man sich jedoch der (jahrhundertealten) Tradition der künstlerischen Werkstätten – etwa die Rembrandts - bewusst, verliert dieses Argument an Gewicht.

Ein Blick ins Gästebuch zur Ausstellung

Doch so sehr die Werke und ihre Präsentation überzeugen, im Gästebuch des Von der Heydt Museums finden sich einige wiederkehrende Kritikpunkte. Zurecht wird von vielen bemängelt, dass es keinen Audioguide gibt. Freunde der kontemplativen Kunstbetrachtung haben auch vergeblich nach Sitzmöglichkeiten gesucht, um sich einem Werk oder einer Inszenierung mehrerer intensiver zu widmen.

Mangelhaft ist vorhandene, aber nur teilweise dienliche die Beschilderung. Zwar entdeckt man in den Ecken der – stets freundlichen – Aufsichten laminierte Bildlisten, mit deren Hilfe sich die Werke schnell identifizieren lassen. Dieser Zustand ist Wochen nach der Eröffnung peinlich. Und auch wenn dies leider den Standards der meisten Museen entspricht, das Fotografieverbot ist so unzeitgemäß wie das Fehlen des Audioguides.

Viele Besucher vermissen auch Postkartenmotive zur Ausstellung. Vorbildlich dagegen ist das kostenlose, mit 38 Seiten recht umfangreiche Begleitheft zur Ausstellung. Nicht jeder Interessierte kann sich nach 12 EUR Eintritt noch den mit 38 EUR eigentlich recht preiswerten Katalog leisten.
 
Fazit: Faszinierender Ein- und Überblick

Die Ausstellung ist trotz der erwähnten Mängel ein absoluter Tipp. Denn dank der vielen Zeichnungen, Fotografien und Druckgraphiken und den frühen Arbeiten des Künstlers kann man die großen Themen, die Formsprache und die Entwicklung eines bedeutenden zeitgenössischen Bildhauers recht gut nachvollziehen.

Die zunächst abstrakt anmutenden Werke Craggs verlieren bei einer intensiven Betrachtung und Begehung der umfangreichen Retrospektive ihre künstlich-anorganisch wirkende Fremdartigkeit. In ihnen findet sich immer wieder die menschliche Figur, meist ein Profil, und die Vielfalt der Formen der Natur. Der Künstler erscheint als geduldiger Beobachter, ein wissenschaftlich anmutender Nachahmer der Formen der Natur. Ein geradezu klassischer Bildhauer. Und schließlich verwundert es kaum noch, dass Cragg vor seinem Kunststudium lange in einem Labor für Biochemie arbeitete.

Besonders interessant, weil erhellend, sind die frühen Arbeiten, etwa die ‚Spectrum‘ genannte Assemblage aus Plastikmüll von 1979. Die treibgutartig, großflächig arrangierte, nach Farben sortierte Installation der Formvielfalt von Design und Funktion spiegelt Humor, wissenschaftliches Interesse. So wie der schlicht ‚Stack‘ genannte Schrottkubus von 1976 die kunsthistorischen Strömungen der 1970er und Craggs Beschäftigung mit ihnen deutlich zeigen.

Also auf nach Wuppertal. Auch wenn man die Objekte, deren Form und Oberfläche in ihrer Vielfalt danach schreien, leider nicht berühren darf. Warum eigtenlich? Neben klassischen Beigaben wie einem Audioguide, funktionalen Beschilderungen, Sitzmöglichkeiten und Postkarten, wäre ein erlaubtes, vorsichtiges Berühren zumindest einzelner Objekte eine innovative, tabubrechende Ergänzung der kunstpädagogischen Vermittlung.

Die sicher Wuppertaler Besucherzahlen könnten durch eine geschickte, innovative Inszenierung der Vermittlung – vielleicht eine koordinierte, haptische Führung durch die Retrospektive – sicher nachhaltig gesteigert werden. Ein klassischer Blockbuster ist diese Ausstellung allemal. Zuletzt noch unser ganz persönlicher Highlight, es ist die monumentale, den ihr zugestandenen Raum sprengende Arbeit ‚Secretions‘ aus dem Jahre 1998.

Spekulationen über Sekretion

Eine unschätzbare Anzahl von Würfeln – das Aufsichtspersonal nennt die genaue Zahl gern und scheint ebenfalls von dem Werk fasziniert – bildet die Außenhaut einer Ansammlung von etwa einem Dutzend amorpher Figuren. Diese Ausscheidungen, Absonderungen sind Teil der Sammlung einer in London beheimateten Filiale der Deutschen Bank. Ein Schelm wer Würfel sieht, an Geld und Aktien denkt und hinterlistiges ahnt, wenn er um die Rolle der Deutschen Bank bei Spekulationen weiß…

Wer die Arbeit weniger politisch, sondern von ihrer Form her lesen will und von den anderen Werken inspiriert nach natürlichen Vorbildern für diese sucht, dem seien die Formen der Ausscheidungen von Tieren empfohlen. Die Ablagerungen von Wattwürmern etwa.

Service

VON DER HEYDT-MUSEUM 

Turmhof 8
42103 Wuppertal
Telefon 0202/563-6231
von-der-heydt-museum@stadt.wuppertal.de

Öffnungszeiten 

DI-SO 11-18 Uhr und DO 11-20 Uhr

lobenswert: Jeden ersten Donnerstag im Monat ist der Besuch der Sammlung
(nicht der Wechselausstellungen) ab 17 Uhr kostenlos


Skulpturenpark Waldfrieden 
Hirschstraße 12
42285 Wuppertal


Links
- ein Ausschnitt des informativen Films über Craggs Werk und Arbeitsweise, hier
- Thomas Köster berichtet für den WDR über Cragg in Wuppertal, hier
- Interview: Sabine Burbaum-Machert im Gespräch mit Tony Cragg, hier
- Stefan Lüddemann über die Wuppertaler Cragg-Ausstellung, hier
- Ralf Stiftel für WA.de über die Ausstellung Tony Cragg - Parts of the World, hier
- Ulrich Traub für die Südwest Presse über die Tony Cragg Ausstellung, hier   
- Bettina Ansorge für die Ruhrnachrichten über Tony Cragg im Heyd-Museum, hier 

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