Montag, 27. Februar 2017

Happy Birthday: 25 Jahre KünstlerinnenGUT Prösitz - Ausstellung bis zum 29. März

Ein Screenhot einer Arbeit von Katrin Leitner, die im Rahmen der Ausstellung 'Mind_Modul_2.0_Basic_Studies' im Juli 2015 in der Kasseler Galerie Ulrike Petschelt zu sehen war. © Katrin Leitner

Endlich: Gute Nachrichten aus Dresden. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist vor allem für Künstlerinnen eine große Herausforderung. Daher möchten wir an dieser Stelle ein ganz besonderes Stipendium bewerben, eines, das sich speziell an Künstlerinnen mit Kindern richtet. 

Das Sächsische Künstlergut Prösitz fördert seit nun 25 Jahren bildende Künstlerinnen und vergibt pro Jahr acht Stipendien. Damit können Bildhauerinnen, Objekt- und Installationskünstlerinnen für vier Wochen lang in Prösitz arbeiten, während ihre Kleinkinder in einer Tagesbetreuung  sind.

Auf diese Weise wird die berufliche, also die künstlerische Tätigkeit der Mütter im Sinne der berühmten, oft aber nur als Floskel vorhandenen  Vereinbarkeit von Beruf und Familie gefördert. Die produktive Auszeit konnten bisher rund 150 Künstlerinnen aus mehr als zehn Ländern genießen. Und die Ausstellung im Sächsischen Landtag in Dresden präsentiert zum 25jährigen Jubiläum KünstlerinnenGUT Prösitz nun eine Auswahl der vor Ort entstandenen Arbeiten.


Ein Screenhot der Website von Dorthe Goeden mit einem Überblick auf ihre Arbeiten.
©
Dorthe Goeden

Ausstellende Künstlerinnen


Gabriele Adler, Wien / Heinke Binder, Dahlen / Sylvia Bohlen, Saalfeld / Ulli Böhmelmann, Köln /Josephine Bonnet, Nürtingen / Roswitha Bühler, Jerichow / Nikola Dicke, Osnabrück / Frauke Eckardt, Saarbrücken / Sabine Fassl, Berlin / Konstanze Feindt Eißner, Dresden / Dorthe Goeden, Aachen / Ute Hartwig-Schulz, Grimma / Nora Herrmann, Radebeul / Angela Hiß, Düsseldorf / Angela Hoegerl, Utting, Kirsten Jäschke, Dresden / Kathrin Leitner, Kassel / Verena Mayer-Tasch, Bedizzano / Anna Novella, Barcelona / Elke Punkt Fleisch, Linz / Heike Schäfer, München / Monika Schneider, Köln / Joanna Schulte, Hannover / Antje Seemann, Aachen / Elisabeth Stumpf, Braunschweig
 

Service und Links
www.kuenstlergut-proesitz.de

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Freitag, 24. Februar 2017

Athens calling - 3 137 OPEN CALL: Ausstellung in Athen - in diesem Jahr!

Ein Screenshot der Website des kleinen aber feinen Kunstraums 3 137 in Athen, über den wir seit 2016 regelmäßig berichten. 

Es tut sich was in Athen. Nein, nicht nur in den fragwürdigen Bilanzen im endlosen Schuldentanz. Sondern in der Kunst-Stadt Athen. Hier zeigt die Kunst an sich, welch enormes, gesellschaftliches Potential ihr innewohnt. Zum Beispiel in der an dieser Stelle bereits häufiger beworbenen 3 137 genannten Kunstinstitution.

Daher verweisen wir hier auf den OPEN CALL der uns und unseren Lesern vertrauten, kleinen aber feinen Kulturinstitution 3 137, die mit viel Enthusiasmus und Kreativität vormacht, wie man Kunst machen kann und welches Potential darin steckt. So wie die documenta 14 nun eine Radio-Kooperation mit DeutschlandradioKultur eingeht und auf diese Weise geschickt schon jetzt in den Medien ist, machten es die Macher von 3 317 in Athen vor. Sie schufen ein Kulturradio, das auf lokaler UKW-Welle und über das Internet seine Inhalte verbreitete. Die Büro- und Ausstellungsräume des 3 317 wurden temporär zum Studio umfunktioniert.

Aber auch auf der großen, mainstreammedienwirksamen Bühne tut sich etwas. Gestern wurde mit viel Pomp für das neue Kulturzentrum "Stavros Niarchos Foundation Cultural Center" (SNFCC) in Athen geworben. Künftig werden dort die Nationalbibliothek und die Staatsoper eine neue Bleibe haben. Der monumentale Bau des italienischen Star-Architekten Renzo Piano wurd dem griechischen Staat von der Stiftung des griechischen Reeders Stavros Niarchos übergeben. 

Kulturpolitk ist Gesellschaftpolitik

Doch vorerst bleibt nur zu hoffen, dass dem SNFCC nicht das gleiche Schicksal droht, welches das seit geraumer Zeit vollendete Museum für zeitgenössische Kunst erlitt: Toller Bau, aber kein Geld für Personal oder Programm... Jetzt aber zurück zur documenta 14 und ihrem 'learning from Athens' genannten Konzept. Denn ganz in diesem Sinne möchten wir das Projekt des 3 137-Teams bewerben.

Wir haben den Athener '3 137 Artist Run Space' genannten Ort für zeitgenössische Kunst 2016 mehrfach erwähnt und vorgestellt, siehe dazu die Linksammlung am Ende dieses Beitrags. Hier folgt nun der Aufruf der Kollegen aus Athen, den wir sehr gerne unterstützen. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass es viele Kunstschaffende interessieren dürfte, 2017, also parallel zur documenta 14, in Athen ausstellen zu können... In diesem Sinne viel Glück bei der Bewerbung...

OPEN CALL for a project
realised on May/June 2017 in Athens

3 137 Artist Run Space is for the first time opening a call for an exhibition proposal that will take place in 2017. 3 137 is an initiative of three artists and a collaborative project space. Its public program constitutes a collective piece and a narrative, open to and merged with dynamic -in time and space- interventions from the invited individuals or communities.

After 5 years we are glad to announce an open call for ideas, exhibition proposals, collective initiatives and suggestions for solo presentations by artists, curators, writers, musicians, cooks, astronomers, architects, designers, scientists or amateurs of any kind.

One proposal will be selected to be realised on May/June 2017.

You can download the attached application form or find it online here. The applications should be sent until the 21th of March to opencall3137@gmail.com.

We are looking forward to your proposals!
Our very bests,
3 137

Service und Links  

- kunstlich.com über eine spannende Kooperation von 3137 in Athen und dem Büro für Brauchbarkeit in Köln, hier
- die Website des Büros für Brauchbarkeit zur Ausstellung Post - Hilfe aus Athen Athen, hier
- die Website des Athener Ausstellungsraumes 3137, hier
- Michaela Prinzinger im Gespräch mit Korbinian Frenzel über Athens neues Kulturzentrum, hier 

- "Eine lange gewachsene Fehlentwicklung", die neue griechische Kulturministerin Lydía Koniórdou im Gespräch mit Britta Bürger, hier 
- Marianthi Milona über die Teileröffnung des Musuems für zeitgenössiche Kunst in Athen, hier 
- Was bringt die documenta in Athen und Kassel?, Diskussion mit Adam Szymczyk, moderiert von Vladimir Balzer, hier 
- Adam Szymczyk, Leiter der documenta 14, im Gespräch mit Maja Ellmenreich über den Tempel der verlorenen Bücher der Künstlerin Marta Minujín, hier
- Kommentare: Kreativität in Krisenzeiten - Tabea Grzeszyk über den Auftakt der documeta 14 in Athen und Parlament der Körper - Wolfgang Landmesser über den Auftakt der documeta 14 in Athen, hier
- der letzte kunstlich.com-Beitrag zur letzten Kooperation des Kölner Büros für Brauchbarkeit und des Athener Ausstellungsraumes 3137: Kosmas Nikolaou, hier


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Mittwoch, 22. Februar 2017

Kassel: Sepulkralmuseum - Hommage an Harry Kramer - bis zum 17. April

Ein Screenshot der Einladung zur Harry Kramer Ausstellung. Es zeigt den Protagonisten in gewohnt cooler Pose und ein Filmstill seines Films 'Die Schleuse' von 1961. © documenta Archiv, Nachlass Harry Kramer und Stadt Kassel

Das aufgrund seiner Architektur und der einzigartigen Sammlung allein schon durchaus sehenswerte Museum für Sepulkralkultur in Kassel widmet sich einem in letzter Zeit leider etwas in Vergessenheit geratenen Künstler: Harry Kramer. 

Es ist bezeichnend, dass der 1997 verstorbene Sohn der Stadt Kassel, der eigentlich 1925 Lingen geboren wurde, im Kasseler Museum für Sepulkralkultur gezeigt wird. Zum einen ist Kramer durch seine Initiative zur Künstlernekropole am Blauen See im Kasseler Habichtswald bekannt. Lange bevor es in Mode kam, die traditionellen Bestattungriten in Frage zu stellen, kämpfte Kramer unermütlich für seine Idee von einer Künstlernekropole.

Zum anderen war Harry Kramer als Professor eine der produktivsten und zugleich provozierendsten Figuren an der Kasseler Kunsthochschule. Er war für über 20 Jahre einflussreicher Lehrer zahlreicher Studierender. Und für diese Rolle hatte er seine vielversprechend begonnene Karriere als international gefeierter Künstler aufgegeben.


Lehre statt Karriere 

Der ‚Friseur aus Lingen‘, wie sich Kramer selbstironisch gerne bezeichnete, verdingte sich als junger Mann u.a. als Schauspieler, Tänzer und Puppenspieler. Bereits in den 1950er und dann in den 1960er Jahren avancierte er zu einem international vielbeachteten Künstler. Zuerst mit seinem mechanischen Theater (1952) und dann mit den sogenannten automobilen Skulpturen, mit denen er mehrere experimentelle Filme drehte.

Seine mit dem Kameramann Wolfgang Ramsbott produzierten Experimentalfilme wurden mit Preisen geehrt, so etwa der Film »Die Stadt« (1956), der mit dem US-amerikanischen »Award of Distinction« ausgezeichnet wurde. Weitere Filme Kramers wurden mit dem Bundesfilmpreis und dem »Grand Prix de Leone« in Venedig ausgezeichnet.


Klare Kante - der Skandalprofessor aus Kassel


Aufgrund seiner bewegten Objekte wurde Harry Kramer wie Jean Tinguely zu einem der bekanntesten Protagonisten der kinetischen Kunst. 1964 war er auf im Rahmen der documenta III prominent in der Abteilung "Licht und Bewegung" vertreten.

Auch an der Hochschule für bildende Künste in Kassel erlangte Harry Kramer mit seiner kompromisslosen Hingabe rasch große Anerkennung. Zusammen mit seinen Studierenden
erarbeitete Kramer bundesweit aufsehenerregende Gemeinschaftsarbeiten, -aktionen und Performances, die unter dem Namen »Atelier Kramer« präsentiert wurden. 

Das für die damalige Zeit avantgardistische Nekropolen-Projekt Harry Kramers sollte zugleich auch sein letztes sein. Im Gegensatz zu den zahlreichen, teils raumgreifenden Skulpturen, Plastiken und Environments der Künstlernekropole wurde Kramers Urne  anonym unter einem Baum bestattet. Seine Motivation für das Projekt formulierte er wie folgt:

"Die Künstler haben keinen Einfluss auf Kulturpolitik, Museumsankäufe und Programme internationaler Ausstellungen. Genau besehen, ist das auch gut so; sie würden sich sonst als Gladiatoren in der Arena selbst ausrotten. Der Wettstreit auf dem Friedhof der Eitelkeiten ist ein unblutiger. Melancholie, Einsamkeit und Repräsentanz dieses Berufs kann sich keinen geeigneteren Ort der Selbstrealisierung und Selbstinszenierung wünschen. Der Künstler kann nur beim eigenen Grabmal sich selbst Auftraggeber und Mäzen sein. Allein das ist Legitimation genug."


Ehrliche Bilanz: Melancholie, Einsamkeit und Gladiatorenkämpfe

Das von seiner Frau Helga Kramer in Anlehnung an sein Atelier eingerichtete Harry Kramer Archiv befindet sich im, dem documenta Archiv nahe nahegelegenen Aschrotthaus in Kassel. Leider verharrt der umfangreiche Nachlass, der persönliche Gegenstände, Kunstwerke und Archivalien zu seinem künstlerischen Schaffen, aber auch seiner Lehrtätigkeit aufweist, seit Jahren in einem Dornröschenschlaf.

Und so bleibt nur zu hoffen, dass sich die Kasseler Kunsthochschule in Kooperation mit dem hoffentlich bald Realität werden documenta Institut in naher Zukunft diesem Nachlass widmet. Denn neben Kramer besitzt das Archiv auch die Nachlässe von den einflussreichen, ehemaligen Professoren Arnold Bode und Hans Hillmann...

Service und Links 

HARRY KRAMER 25.1.1924 – 20.2.1997
20. Februar – 17. April 2017

Museum für Sepulkralkultur
Weinbergstraße 25–27 | 34117 Kassel
T. 0561 91893-0
www.sepulkralmuseum.de



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Montag, 20. Februar 2017

Computerpoesie? AI bzw. KI war gestern, generierte Liebesbriefe aus den 1950ern...

Ein Screenshot der New Yorker Website mit dem Artikel von Siobhan Roberts über Strachey's Liebesbriefe © New Yorker, Illustration Wren McDonald

Auch Fleurop war gestern bzw. ist voll 20. Jahrhundert, denn heute sendet man Liebesbotschaften doch via SMS oder What's... oder oder oder. Wir dagegen bevorzugen Postkarten. Aber wem der Weg zum Briefkasten zu weit, die Marken zu teuer sind oder was auch immer, dem sei das Folgende empfohlen: Computergenerierte Liebesbekundungen. 

Neben seinen medientheoretischen Schriften wurde David Link u.a. durch seine aufwendigen, weil authentischen Rekonstruktionen historischer Computer bekannt. Denn oft dauert es Monate, bis ein Originalteil - etwa die runden Röhrenmonitore - für die Rekonstruktion eines Computers von der Mitte des 20. Jahrhunderts aufgetrieben und für seine Installationen prepariert werden kann. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass die alten Teile kaum noch auffindbar sind.
 

DARLING, MY LITTLE YEARNING CLINGS TO YOUR DEAR FERVOUR... 

Aber jetzt kommen wir endlich zur wichtigsten Sache der Welt: Der Liebe. Denn Bekundungen von letzterer ließ der Computerpionier Christopher Strachey durch seine raumfüllenden Maschinen bereits in den 1950er Jahren automatisch generieren. Und 2012 war der Künstler und Medientheoretiker David Link prominent im Rahmen der documenta (13) mit einer Rekonstruktion von Strachyes 'love letter machine' zu sehen.

MY LIKING PASSIONATELY CHERISHES YOUR FOUND ARDOUR... 


Inmitten der Computerabteilung des astronomisch-physikalischen Kabinetts der Kasseler Sammlungen in der Orangerie am Rande des Aueparks installierte Link seine 'LoveLetters_1.0 MUC=Resurrection. A Memorial' genannte Rekonstruktion von Stracheys Geniestreich. Die ziemlich verstaubte Atmosphäre der Kasseler Computer-Sammlung mit ihren Zuse-Rechnern und vergilbten Vitrinen mit Speichermedien des 20. Jahrhunderts wurde dank der Gemälde von Konrad Zuse und Links Installation in ein großes, vielschichtiges und damit gelungenes Gesamtkunstwerk verwandelt.

YOU ARE MY LOVING SYMPATHY. MY CHARM AVIDLY WOOS YOUR YEARNING. YOUR ARE MY LOVELY RAPTURE... 


Service und Links 
 - der Artikel von Siobhan Roberts im New Yorker über die M.U.C. Love Letters mit dem Love Letter Generator, hier
- ein kunstlich.com Teaser über David Link im Rahmen der documenat (13), hier
- die Website des Künstlers David Link, hier

- mehr über die love letters machine von Link, hier

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Freitag, 17. Februar 2017

Mitmachen - Lobbyarbeit gegen die prekären Verhältnisse in der Kultur

Ein Screenshot der artbutfair-Website. © artbutfair

Sie kennen das sicher auch. Sonntags wird die Kunst von allen Würde- und Amtsträgern in höchsten Tönen gelobt und ihre Bedeutung für die Gesellschaft hervorgehoben. Doch am Folgetag, montags, wenn das Budget für die Kultur beschlossen werden soll, ist sie nur noch freiwillige Leistung und wird dementsprechend im Haushalt berücksichtigt. 

Dieser nur scheinbar paradoxe Zustand ist allen, die sich dafür, also die Bedingungen für die Produktion, Konzeption und Kommunikation von Kultur, interessieren, leidlich bekannt. Und ja, zugegeben, meist berichten wir an dieser Stelle über die selbständigen Produzenten von Bildender Kunst, also Maler, Bildhauer, Performer, Multimedia-Künstler etc. Doch die Konsequenzen des paradoxen Zustandes, also die Diskrepanz zwischen der öffentlichen Würdigung der Bedeutung von Kunst und Kultur und der Bereitschaft, für diese entsprechende finanzielle Mittel einzustellen, sind gattungsübergreifend.

get up stand up ... 


Denn auch wenn man sogenannter Bühnenkünstler ist, unabhängig davon, ob frei oder angestellt, ob in Schauspiel, Tanz, Oper, Musical oder als freier Musiker, sind prekäre Verhältnisse trotz voller Arbeitstage keine Ausnahme. Diesem Zustand, der natürlich nicht nur die Akteure, sondern auch die mit der Kommunikation bzw. Vermittlung der Kunst betrauten Mitarbeiter des Kulturbetriebs betrifft, widmet sich der Verein artbutfair, den wir an dieser Stelle empfehlen möchten. Es folgen Zeilen von der artbutfair-Website: 

'Anstatt reglos zuzusehn
greife ich ein
und ernenne gewisse Dinge für falsch
und arbeite daran sie zu verändern und zu verbessern

(Peter Weiss, Marat/Sade)

Schlechte Bezahlung, im Extremfall unter dem Mindestlohn, unsichere und prekäre Vertragsverhältnisse mit geringem Kündigungsschutz, freie Einzelverträge, die knebeln, aber keine Sicherheit und katastrophale Abendgagen bieten, unüberprüfbare Wochenarbeitszeiten (50 Stunden? Kann leicht vorkommen!), ein ganzer Monat ohne einen einzigen freien Tag, komplette Arbeitsphasen ohne Bezahlung (Proben), Respektlosigkeit im täglichen Umgang, Beurteilung von Können und Leistung nach rein subjektiven / persönlichen Kriterien, Arbeitsplatzverlust nach 13 Jahren nur mit der Begründung, dass der direkte Vorgesetzte wechselt (Theaterverträge), ein ständiges (diffuses) Gefühl der Angst, das einem (konkreten) Bewusstsein der Abhängigkeit entspringt: ist so etwas überhaupt vorstellbar in Arbeitsverhältnissen in Deutschland, Österreich und der Schweiz?Ja, ist es, wenn man Bühnenkünstler ist, ob frei oder fest, ob in Schauspiel oder Tanz, Oper oder Musical, und auch als freier Musiker in Rock und Pop, Jazz und Klassik.

In all diesen Bereichen ist der Ausbeutung Tür und Tor geöffnet, denn: es geht ja um künstlerische Erfüllung, es ist ja eine Berufung, nicht nur ein Beruf. Die Konkurrenz ist riesig, unzählige junge Menschen streben Jahr für Jahr aufs Neue mit Leidenschaft auf die Bühnen, die Gefahr, dass Idealismus missbraucht wird, ist groß. Und es sind nicht nur die „klassischen“ Bühnenberufe, über die ja aktuell viel öffentlich diskutiert wird; fast jeder freie Musiker, der um seine Gigs und Konzerte, um faire Verträge und Rechteregelungen (oder gar um Erfolgsbeteiligung) kämpft, hat dem Thema: „Friss oder stirb“ etwas hinzuzufügen.

Natürlich: Missbrauch geschieht nicht überall, es gibt viele Institutionen und Veranstalter, künstlerische Leitungen und Agenturen, die sich um Fairness und Gerechtigkeit bemühen. Aber es gibt auch, da muss man realistisch sein, mehr als ein paar wenige schwarze Schafe, die die angespannte Lage am Arbeitsmarkt für Künstler ausnutzen:

Indem sie schlechte Gagen zahlen und katastrophale Bedingungen bieten – weil es der Markt erlaubt. ART BUT FAIR hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Missstände aufzuzeigen – und an ihrer Veränderung zu arbeiten.'


Ein Screenshot der Website der Kulturpolitischen Gesellschaft. Viele der lesenwerten Publikationen sind als PDF zum Download zur Verfügung © Kulturpolitische Gesellschaft

Es gibt natürlich noch andere, ältere Institutionen, die sich dem Thema ausführlich widmen. Etwa die Kulturpolitische Gesellschaft. Sie ist ein inzwischen rund 40jähriger Thinktank, der Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik versteht und dementsprechend auch die Interessen der Kulturschaffenden und -vermittler vertritt. Dank eines dem Verein verbundenen Institutes, das Bonner Institut für Kulturpolitik, wird in Kooperation umfangreiche Forschung betrieben.

Auch dieser Verein, der sich schlicht als bundesweite Vereinigung kulturpolitisch interessierter und engagierter Menschen bezeichnet, lässt in seinen Leitlinien keinen Aspekt der Aufgaben und problematischen Bedingungen der Kunst- und Kulturschaffenden außer Acht. Seine umfangreiche Forschungs-, Vermittlungs- bzw. Lobbyarbeit für die Kultur ist bemerkenswert. 


Also, nicht-wissen gilt nicht, Mitglied werden schon...

Service und Links
- artbutfair-Website, mit allen Infos, dem Newsletter und der Möglichkeit, dem gemeinnützigen Verein beizutreten oder zu spenden, hier 
- die Website der Kulturpolitischen Gesellschaft, hier


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Dienstag, 14. Februar 2017

Nur noch 5 Tage: Bonn - Gregor Schneider - Wand vor Wand

Ein Screenshot der Website für die Ausstellung 'Gregor Schneider - Wand vor Wand' in der Bonner Bundeskunsthalle. © Gregor Schneider / VG-Bild und Bundeskunsthalle

Die von Kritikern ausgezeichnete Ausstellung 'Wand vor Wand' des Künstlers Gregor Schneider in der Bonner Bundeskunsthalle bietet einen umfassenden Einblick in das Schaffen des sagenumwobenen Künstlers, der sich seit nun 30 Jahren mit dem Bauen von Räumen beschäftigt - von seinen Anfängen bis in die Gegenwart.  

Man könnte es fast eine Retrospektive nennen, denn die ausgestellten Werke reichen von Fotografien und Zeichnungen aus den 1980er Jahren über die bekannten Haus u r Fotografien der 1990er Jahre über die 'Odenkirchener Straße' genannten Videoarbeiten von 2007, die Schneider im Geburtshaus des Propagandaministers Joseph Goebbels zeigen, bevor er es mit Ausnahme der Ausnahme der Außenwände zerstörte, bis hin zu der 'Kolkata Göttinnen' genannten Videoinstallation aus dem Jahre 2011. Recht neu ist der 'Matschraum' von 2016, der in ähnlicher Form unter dem Titel 'German Angst' bereits 2014 einmal realisiert wurde.

Wäre da nicht dieses morbide Gefühl der zellenartigen Räume, nicht die Puppen in Form von Kinderkörpern in Plastiksäcken oder Hannelore Reuen, der sogenannten 'Alten Hausschlampe', die Schneider als Alter Ego schuf, um sich zu befreien, könnte der Ausstellungsparcours in Bonn ein spannendes Entdeckungsspiel auch für Heranwachsende sein.

Doch der Horror, den viele der Räume, die in Bonn geschickt zu einer labyrinthartigen Installationen verbunden worden sind, mehr oder weniger deutlich beherbergen und ausstrahlen, ist nichts für Kinder oder schwache Gemüter. Auch wenn die Entdeckung der komplex verschachtelten Räume durchaus an Versteckspiele und ungeheuerliche Abenteuer der Jugend erinnert.

Wer Schneider entdecken und verstehen lernen will, dem sei die Bonner Ausstellung wärmstens empfohlen. Der Überblick, den man durch die Vielzahl an Werken aus seinem inzwischen über 30jährigen Schaffen gewinnen kann, ist einfach sehenswert.

Besonders lobenswert ist auch das kostenlose, umfangreiche Begleitheft. Es erlaubt dem interessierten Besucher, anhand von Texten, Statements und ausführlichen Werkdetails dem verstörenden Werk Gregor Schneiders näher zu kommen.

Links

- die Website zur Ausstellung Wand vor Wand von Gregor Schneider, hier 
- Gerd Mörsch bespricht Gregor Schneiders fallenartige Installationen ausführlich in: Die Falle in der Kunst des 20. Jahrhunderts (...) , hier 
- kunstlich.com über die Bonner Ausstellung 1/2017, hier 

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Montag, 13. Februar 2017

Jetzt aber schnell: AUTOPAINT in Wiesbaden - noch bis zum 19. Februar

Das hier eingefügte Bild zeigt einen Teil der wandfüllenden Spiegel-Installation von Raymund Kaiser in Wiesbaden. Es ist ein Ausschnitt einer die Ausstellung dokumentierenden Fotografie von Dirk Uebele © Foto: Dirk Uebele und Kunst: Raymund Kaiser
Wir hatten zuletzt bereits von der spannenden Ausstellung in Wiesbaden berichtet,  die aufgrund der kurzen Laufzeit leider schon Ende dieser Woche schließt. Daher hier der Hinweis auf die nun erscheinende Publikation zur Ausstellung und den Text zur Ausstellung:

Die Ausstellung, die wir hier vorstellen, heißt AUTOPAINT. Ich meine, eigentlich könnte es doch auch ein Autosalon sein. Schicker Wagen, Spiegelsaal. Da würde es doch kaum wundern, wenn gleich ein Verkäufer um die Ecke käme und fragte, ob wir nicht mal probesitzen möchten. Aber natürlich ist es kein Autosalon. Und Probesitzen ist heute auch nicht möglich. Andreas Exner geht es vielmehr um Fragen der Nutzung, Benutzung, Vernutzung, Umnutzung und letztlich auch Entnutzung, wenn er Malerei in oder doch eher an einem Automobil präsentiert. Und, beschränkt sich die Malerei denn eigentlich auf das Stück Leinwand, das anstelle der Fahrertürscheibe eingesetzt ist? Oder ist es nicht vielmehr das Auto selbst, der Lack, die Oberfläche, die sich hier malerisch
geriert.

Bei Andres Exner vermischen sich diese Ebenen. Er spielt mit dem Weltenwechsel, der Frage nach Gebrauch, Alltag und Kunst. Anders als bei John Chambarlain „verbraucht“ er den Wagen aber nicht für seine Kunst, er leiht ihn sich nur aus. Und das wortwörtlich. Das Fahrzeug ist zugelassen und nur vorübergehend hier geparkt. Aber auch anders als die vielen Automaler, die die Oberflächen zahlloser Automobile verziert haben, agiert Exner. Seine Malerei ist temporär, die Leinwand kann entnommen werden, der Fiat nachhause fahren, kein Problem. Nur eben jetzt nicht, jetzt ist er Kunst, ist Malerei, für uns heute Abend und für die Gäste in den kommenden Wochen.

Exner spielt mit dem Fetisch, mit dem heiligen Blechle, bringt zwinkernd – wie einst Blinky Palermo – die Malerei dagegen in Stellung. Malerei, die eigentlich immateriell erscheint, wird hier als Objekt real. Ursprünglich flach wird sie faktisch, wird räumlich und dies nicht nur im Volumen des farbigen Blechs. Keine Frage, die Malerei beschränkt sich nicht auf die Leinwand, vielmehr erstreckt sie sich als Komposition über das ganze Fahrzeug, mit seinen Rundungen, Flecken, Ausschnitten, Durch- und Einblicken. Gerade weil ein kleines Stück Leinwand gegen die „normale“ Funktion des Autos rebelliert, haben wir die Chance, dieses einmal anders, mithin mit anderen Vorzeichen zu betrachten.

Das Bild wird uns dabei zum Fenster und doch verschließt es sich vor unserem Blick. Außen und Innen werden thematisiert. Und, wer genau hinschaut, sieht Malerei – selbst im Seitenspiegel des Wagens. Apropos Spiegel: neben dem „Fenster“ steht dieser für eine weitere Bedeutung des Bildes. Denn: durch das Fenster wird geschaut, wir sehen in eine andere Welt. Der Spiegel aber schaut zurück, berichtet von den Geschehnissen auf unserer Seite der Scheibe.


Das hier eingefügte Bild zeigt einen Teil der Installation von Andreas Exner und rechts die wandfüllende Spiegel-Installation von Raymund Kaiser in Wiesbaden. Es ist ein Ausschnitt einer die Ausstellung dokumentierenden Fotografie von Dirk Uebele © Foto: Dirk Uebele, Kunst Andreas Exner und Raymund Kaiser

Raymund Kaiser gibt uns dazu Gelegenheit; mit seiner Spiegelwand, die den Blick zurückwirft und zugleich uns den Raum erweitert. Aber Halt! Da ist sie wieder unsere Frage, wo ist hier die Malerei? Sind es die Spiegel, die in der Tradition Rauschenbergs, Pistolletos oder Richters den Raum erweitern, reflektieren
und bespiegeln, die Wirklichkeit und Bild verschmelzen lassen? Aber sind da nicht auch blinde Flecken, die Spiegel etwa zerbrochen? Fehlt hier gar ein Stück der Wirklichkeit? Und: Sind nicht vielmehr diese Ausbrüche bei genauer Betrachtung die eigentliche Malerei?

Hier sehen wir Faktisches, wir sehen eine Handschrift, sehen, wie Farbe aufgetragen und schließlich zu ganz unterschiedlichen, räumlich erscheinenden Strukturen wird. Im Gegensatz zum Spiegelpart, der uns nur zeigt, was wir schon kennen, finden wir dort etwas neues, andersartiges, vor allem aber beständiges. Denn das, was wir jetzt im Spiegel sehen, ist nachher nicht mehr da, ist flüchtig und nur für den Augenblick. Die Malerei, unscheinbar grau, aber bleibt. Die Spiegelwand besteht aus vielen Bildern, aus Einzelfragmenten, die wir im Schauen zusammenfügen oder auch isoliert betrachten können.

Ganz bewusst ist hier ein modularer Aufbau gewählt, der die Spiegelung hinterfragt, der sie letztlich auch bricht. Befragt werden Komposition genauso wie Oberfläche und Räumlichkeit des Bildes. Im Ergebnis offen und nicht festgelegt. Der Raum, in dem wir uns befinden wird befragt und zeigt sich plötzlich in ganz unterschiedlichen Facetten. Wir sehen Spiegelungen in der Kunst, wie auch im Fenster auf der gegenüberliegenden Seite, in der sich alles nochmal zu zeigen scheint. Zurückgenommen jedoch und in einer anderen optischen Ebene.

Und noch etwas finden wir im Raum: Die Rückwand ist verhangen. Ein großes Transparent fängt unseren Blick. Nicht nur, dass hier der Titel von Andreas Exner nochmals ganz groß angeschlagen wird, nein, uns selbst wird damit auch ein Stück des Raums genommen. Wo an den Längsseiten der Raum erweitert wird, dringt hier etwas ein, tritt uns gegenüber: Am Ende ein weiteres Thema der Malerei, die nicht nur Fenster und Spiegel sein kann, sondern auch Vorhang, der etwas verbirgt oder nur vage durchscheinen lässt. Und immer bleibt dabei die Frage, was wird denn hier eigentlich gezeigt? Und was bleibt uns hier verborgen?


Ein Text von Jörg Daur, Museum Wiesbaden – Hessisches Landesmuseum für Kunst und Natur

Service und Links 
- Christine Dressler für den Wiesbadener Kurier über AUTOPAINT, hier
- Andreas Exner, *1962, lebt und arbeitet in Frankfurt, mehr über sein Werk findet sich hier
www.andreasexner.net
- Raymund Kaiser, *1955, lebt und arbeitet in Köln, mehr über sein Werk erfahren Sie hier www.raymundkaiser.de

Die hier verwendeten Ausschnitte sind Screenshots von Bildern, sie finden sich wie der Text in der Publikation „AUTOPAINT“, die anlässlich der Ausstellung im Kunstverein Bellevue-Saal in Wiesbaden vom 19. Januar bis 19. Februar 2017 erscheint.

Weitere Informationen unter www.kunstverein-bellevue-saal.de

© 2017 für den Fotografen Dirk Uebele, Wiesbaden und den Autor Jörg Daur © 2017 VG Bild-Kunst für Raymund Kaiser und Andreas Exner

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Freitag, 10. Februar 2017

Bonn: Touchdown - Die ausführlichere Kritik...


Bis heute wird in der Öffentlichkeit kaum über die Morde im Rahmen des NS-Euthanasie-Programms gesprochen. Aber ein Bischof aus Münster tat dies bereits 1941. Er hieß Clemens August Graf von Galen und seine bewegende Predigt in der Münsteraner Kirche St. Lamberti ist Teil der Ausstellung Touchdown in Bonn. 

'Die meisten von uns werden abgetrieben...' lautet ein Statement in der Bonner Ausstellung. Zu sehen ist auch eine amtliche Mitteilung an einen Vater, dessen Tochter in den 1940er Jahren angeblich an einer Kette unvermeidlicher Krankheiten starb. Das kühle Schreiben informiert den Mann über Tod seines Kindes und fragt ihn, wo die Asche hingesandt werden soll. Wenn er nicht binnen einer kurzen Frist reagiere, werde die Asche anonym bestattet, heißt es weiter. Mehrmals markierte der Vater mit blauen Kugelschreiber die den Tod erklärenden Diagnosen des Schreibens in Großbuchstaben als Lüge.

Oben an den Wänden, nahe der Decke des dunkel gehaltenen Raumes zur NS-Geschichte, wo das erschütternde Schreiben in einer Vitrine ausgestellt wird, ist auch eine Empfehlung zu lesen. Die Verbliebenen würden den Tod ihrer Verwandten leichter verkraften, wenn man ihn als Folge von schweren, natürlichen Krankheiten erkläre. Also nicht als gezielte Tötung, als bewusste, systematische Auslöschung sogenannter volksschädlicher Individuen, die im Rahmen der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ tausendfach vollzogen wurde.        


Der 2011 verstorbene Künstler Clemens Martin Theo Baron hatte viele Talente, in Bonn sind 5 Zeichnungen aus einer Serie von 20 zu sehen, sie zeigen, dass er sich offen zu seiner Homosexualität bekannte. © Clemens Martin Theo Baron

Wer sind wir? Eine kulturhistorische und experimentelle Spurensuche in unserer Vergangenheit und Gegenwart 

Ja, die systematische Ermordung behinderten Lebens durch das NS-Regime gehört zur Geschichte des Down-Syndroms. Wer sich mit ihm befasst, stößt zwangsläufig darauf. Doch dieses düstere Kapitel steht nicht im Zentrum der Bonner Ausstellung Touchdown. Ihr gelingt es, dank der innovativen, breite Zielgruppen ansprechenden Inszenierung einen Blick auf die ganze Wirklichkeit, die Vielseitigkeit des Lebens von Menschen mit Down-Syndrom zu ermöglichen. Es scheint, als hätten sich die Ausstellungsmacher von dem Science-Fiction-Film (the cube), den wir in der Vorankündigung dieser Rezension bereits erwähnten, inspirieren lassen.
 
Aus der Perspektive von Außerirdischen... 


wirft die Ausstellung einen Blick auf das Leben von Menschen mit Down-Syndrom. Das Konzept lautet wie folgt: Im Oktober 2016 landen 7 Astronauten und Astronautinnen von einem fremden Planeten auf der Erde. Sie nennen sich „Second Mission”. Sie haben das Down-Syndrom. Vor 5.000 Jahren sind die ersten Außerirdischen ihrer Art auf der Erde gelandet. Die Second Mission hat den Auftrag zu überprüfen, wie es den ersten Siedlern und Siedlerinnen ergangen ist und wie ihre Nachfahren heute leben. Als lebensgroße Comic-Figuren begleiten die Astronauten die Besucher und Besucherinnen durch die Ausstellung.

Was ist eigentlich normal? 


Die vom Künstler Vincent Burmeister geschaffenen Comic-Figuren auf den Ausstellungswänden gliedern und kommentieren die Ausstellung zugleich - ein lobenswertes Beispiel von intelligentem, niederschwelligem Ausstellungsdesign. Touchdown zeigt die dunkle Seite der Geschichte von Menschen mit Down-Syndromklar klar und deutlich. Aber sie ist nur ein Teil des Ganzen, denn zugleich weist Tochdown weit darüber hinaus. Sie spannt einen kulturhistorischen Bogen von einer antiken, mittelamerikanischen Hochkultur, deren steinerne Kinderfiguren scheinbar eindeutig auf das Down-Syndrom verweisen, bis in die Gegenwart.

Auch in Bonn zu sehen: Marie Bodson, Ohne Titel (Liebespaar), Serie von 4 Zeichnungen © Marie Bodson

Dürfen Menschen mit Down-Syndrom heiraten, Eltern werden? 

Mittelalterliche Schriften zeugen davon, das die Fürsorge für Menschen mit Behinderungen eine christliche wie rechtliche Pflicht für deren Verwandte war. Und natürlich wird auch die Geschichte des englischen Arztes John Langdon Down (1828–1896) erzählt, nach dem das Down-Syndrom benannt ist und der sich vorbildlich für Menschen mit Down-Syndrom einsetzte. Besonders hervorzuheben sind auch die persönlichen Kommentare der an der Ausstellung beteiligten Menschen mit Down-Syndrom.

Inklusion und Exklusion 


Gleich zu Beginn der Ausstellung kann man sich - dank einer Audioarbeit - ein sehr persönliches Bild von ihrem Leben machen. Ganz konkret, humorvoll, traurig und mutig berichten sie von ihrem Leben, ihren Problemen und Träumen. Die für die Empathie und Sensibilisierung der vermeintlich normalen Menschen so wichtigen Fragen - Wie leben sie? Wovon träumen sie? Welche Rolle spielen Beziehungen, Liebe und Sexualität? Wo hindern Grenzen? - werden hier sympathisch wie intelligent beantwortet.

Das hier gezeigte Werk wird einem Schüler von Jan Joest von Kalkar zugeschrieben (um 1515). Warum dieses Bild? Ganz einfach. Ein Engel und die oben in der Mitte abgebildete Figur erinnern an Menschen mit Down-Syndrom.

Wer wollen wir sein? 

Auf diese Weise und durch den ausstellungsgeführten Blick auf die Geschichte der noch immer Ausgesonderten kommt man schnell zu den wesentlichen Grundfragen unseres (Zusammen-)Lebens: Wie offen sind wir wirklich für Anders-Sein und Abweichung von der Norm? Als Gesellschaft und als Individuum? Wie groß ist die Diskrepanz zwischen den Bekundungen und den Fakten, etwa die Zahl der Abbrüche von Schwangerschaften, wenn die Diagnose Trisomie 21 lautet.

Vorab sei nur so viel verraten: Es sind sehr ernüchternde Zahlen. Aber der Ausstellung in Bonn gelingt es, die Mut machenden Beispiele in den Vordergrund zu stellen. Also, auf nach Bonn!
 

Service und Links
- die Website zur Ausstellung Touchdown in der Bonner Bundeskunsthalle, hier  
- die Galen-Predigt von 1941, hier
- SWR2-Kulturgespräch mit Katja de Bragança über Touchdown, hier
- die NOZ über die Bonner Ausstellung Touchdown, hier
- Merle Schmalenbach liefert im Dezember 2016 für die Zeit eine Rezension von Touchdown, erschienen in Christ&Welt, hier
- Christiane Hoffmans für die WELT über Touchdown in Bonn, hier 

- Michael Köhler über Touchdown in der Bundeskunsthalle Bonn - die erste Ausstellung über die Geschichte des Down-Syndroms, hier
- spannende Diskussion: Menschen mit Behinderung - Vom Hochschuldozenten bis zum Museumsführer. Wie leben eigentlich Menschen mit einer Behinderung in unserer Gesellschaft und welche besonderen Bedürfnisse haben sie? Um das herauszufinden, fragt man sie am besten selbst, hört ihnen zu und lässt sie als Experten in eigener Sache zu Wort kommen, hier
- mehr über die Früherkennung des Down-Syndroms, Test mit einer "verheerenden Botschaft" – so Gisela Höhne im Gespräch mit Nana Brink, hier
- Susanne Arlt berichtet über Lehrer und Schauspieler mit Down-Syndrom, hier

- mehr über den im Text erwähnten Science-Fiction-Thriller Cube von 1997, hier

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Mittwoch, 8. Februar 2017

Aachen - Köln: New Talents und Happy Birthday Gerhard Richter

Eine Arbeit von Dragutin Banic aus dem Jahr 2015 (o.T. Hasenleim/Pigmente auf Leinwand, 150 × 120 cm). Courtesy Dragutin Banic

Köln und Aachen verbindet nicht nur die Peter und Irene Ludwig Stiftung, sondern eine lange, viel ältere (Kunst-)Tradition als die des Pralinenmeisters. Ein Pendeln zwischen beiden Städten an diesem Wochenende empfehlen wir wie folgt.

Zuerst am Freitagabend im Museum Ludwig die Kunst-VIPs des Rheinlandes bei der Richter-Vernissage treffen, Klüngeln, Kölsch trinken und am nächsten morgen, früh, bevor die Massen das Haus stürmen, die Richter-Ausstellung schauen. Gegen 11:30, denn so viele Richter-Werke sind ja nicht zu sehen bzw. neu, kann man dann vom Bahnhof aus direkt nach Aachen reisen, steigt dort in den Bus und fährt in eine traumhafte Landschaft, die nach dem Besuch der jungen Talente im Kornelimünster zum Spaziergang einlädt. Hier folgen nun Ausschnitte der Pressemitteilungen und -einladungen der beiden Ausstellungen. 

Ach ja, warum wir die beiden Ausstellungen zusammen vorstellen? Das werden sich einige Leser sicherlich fragen. Die ausführliche Antwort ist ein Buchtipp, siehe unten bei Service und Links. Es war einmal. Vor langer, langer Zeit als Propaganda im Osten Sozialistischer Realismus hieß, proklamierten junge, aus dem Osten geflohene Künstler den Kapitalistischen Realismus...

Mehr über die Ausstellung in Aachener Kornelimünster

Im Kunsthaus NRW Kornelimünster gastiert ein besonderes Format der Künstlerförderung: Zehn ausgewählte KünstlerInnen von „new talents – biennale cologne“. Nach der erfolgreichen Station in der Kunsthalle Recklinghausen findet das zweiteilige Ausstellungsprojekt „new talents – Junge Kunst aus NRW“ nun im Frühjahr 2017 in Kornelimünster seinen Abschluss.

Im Anschluss an die fünfte Ausgabe des spartenübergreifenden Festivals „new talents – biennale cologne“ (Mai-Juni 2016) wurden zehn der teilnehmenden KünstlerInnen aus der Sparte Bildende Kunst für zwei Folgeausstellungen in den renommierten Ausstellungshäusern in Recklinghausen und Aachen-Kornelimünster ausgewählt. Räume stellen für KünstlerInnen immer eine Herausforderung dar; die für das Projekt ausgewählten Ausstellungsorte können dabei nicht unterschiedlicher sein: In der Kunsthalle Recklinghausen eine moderne Hallenarchitektur in Stahlbeton – in Kornelimünster intime Räume mit barocker Ausstattung. Die zehn jungen künstlerischen Positionen reichen von klassischer Malerei und Skulptur über Video- und Soundarbeiten bis hin zu raumbezogen Installationen, die eigens für die besondere Ausstellungssituation im Kunsthaus NRW entwickelt wurden. Allen KünstlerInnen ist gemein, dass sie ihren künstlerischen Abschluss innerhalb der letzten vier Jahren gemacht und ihren Lebensschwerpunkt in Nordrhein-Westfalen haben.

Ermöglicht wird diese nachhaltige Ausstellungsinitiative durch das neue Förderprogramm „Individuelle Förderung von Künstlerinnen, Künstlern und Kreativen“ (IKF) des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NRW und wird umgesetzt durch ecce, dem european centre for creative economy in Dortmund. Zehn ausgewählten „new talents“-Künstlern wird so eine individuelle Förderung in Form der beiden Folgeausstellungen geboten. Aus „new talents – biennale cologne“ wurden von Ferdinand Ullrich (Direktor Kunsthalle Recklinghausen) und Marcel Schumacher (Leiter Kunsthaus NRW Kornelimünster) ausgewählt:

Dragutin Banic - Louisa Clement - Vera Drebusch - Julia Gruner - Bastian Hoffmann - Roman Kochanski - Claudia Mann - Benjamin Ramírez Pérez - Sebastian Thewes - Elisabeth Windisch



Postfaktischer kapitalischer Realismus? Mit dieser Arbeit von Vera Drebusch (in Kooperation mit Timothy Shearer): Texting while driving (2016) wirbt die Aachener Ausstellung. Courtesy Vera Drebusch

Köln, Museum Ludwig: Gerhard Richter

Seit über 50 Jahren arbeitet Gerhard Richter an der fulminanten Erneuerung der Malerei. Das weit ausfächernde Œuvre des vielleicht bekanntesten Künstlers unserer Zeit fasziniert durch das Spannungsverhältnis von Figuration und Abstraktion, von Bedeutung und Banalität. Im Werk Gerhard Richters, der am 9. Februar 1932 in Dresden geboren ist und seit 1983 in Köln lebt, dominieren seit den späten 1970er Jahren seine abstrakten Bilder.
Anlässlich des 85. Geburtstages von Gerhard Richter am 9. Februar 2017 stellt das Museum Ludwig erst­mals 26 abstrakte Bilder vor, die alle im letzten Jahr entstanden. Leuchtende Farbigkeit und differenzierte, vielschichtige Kompositionen kennzeichnen die neuen Bilder, die meist auf Leinwand in ganz verschiedenen Formaten gemalt sind. Mit Pinsel, Spachtel, Rakel und Messer bearbeitet der Künstler die in mehreren Schichten aus Ölfarbe aufgebauten Bilder; seine lange Erfahrung – auch in der Einbeziehung des Zufalls in den Entstehungsprozess – führt zu detailreichen und äußerst komplexen Kompositionen. Der Zweifel an der Darstellbarkeit von Realität und die Frage nach der Bedeutung des gemalten Bildes liegen Richters Schaffen zugrunde.
 

Parallel werden wegweisende Werke von Gerhard Richter aus der Sammlung des Museum Ludwig präsentiert: Ikonen wie Ema (Akt auf einer Treppe) von 1966 oder 48 Portraits deutscher Geistesgrößen von 1971/72, das abstrakte Bild Krieg von 1981 bis hin zur Glasarbeit 11 Scheiben von 2003 werden unter anderem zu sehen sein. Diese ebenfalls von Gerhard Richter eingerichtete Sammlungspräsentation zeigt zusätzlich viele Editionen, in denen der Maler seine Mittel und seine Fragestellungen nach Bild und Abbild noch einmal erweitert. Die Editionen von Gerhard Richter sind mitunter schon lange in der Sammlung des Museum Ludwig, teilweise sind es jedoch auch Geschenke, die Sammler aus dem Rheinland und der Künstler selbst, anlässlich seines 85. Geburtstags dem Museum übergeben haben.

Service und Links 

new talents - destination kunsthaus nrw Vernissage am 11. Februar – 23. April 2017   
kunsthaus nrw
Abteigarten 6
52076 Aachen – Kornelimünster

Gerhard Richter. Neue Bilder
Vernissage am 9. Februar, zu sehen bis zum 1. Mai  
Museum Ludwig
Hein­rich-Böll-Platz
50667 Köln

- die Websiten der jungen, in der Aachener Gruppenausstellung
new talents vertretenen Künstler sind oben im Text hinterlegt, einfach auf ihre Namen klicken...
- die Website des kunsthaus nrw zur Ausstellungnew talents - destination kunsthaus nrw, hier 

- die Website des Museum Ludwig zur Ausstellung Gerhard Richter. Neue Bilder, hier
- eine Bildergalerie mit neuen Arbeiten von Gerhard Richter, hier
- der Buchtipp: Stephan Strsembski: Kapitalistischer Realismus. Objekt und Kritik in der Kunst der 60er Jahre, hier


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Montag, 6. Februar 2017

Berlin: Neues vom Totalkünstler Timm Ulrichs - Die Welt im Wohnzimmer

Mit diesem Bild lädt WENTRUP zur kommenden Ausstellung von Timm Ulrichs (Die Welt im Wohnzimmer. Das Fernsehgerät als Sockel und Hausaltar, 2001/09) © Timm Ulrichs, VG Bild-Kunst

In Berlin gibt es in Kürze eine neue Ausstellung mit Werken des bemerkenswerten Totalkünstlers Timm Ulrichs zu sehen. Als solcher ist er seit 1959 aktiv und gründete die „Werbezentrale für Totalkunst, Banalismus und Extemporismus“. Ihr Ziel war die Verbreitung, Entwicklung und Produktion von Totalkunst. 

Ulrichs ist eine der prägenden, viele inspirierenden Figuren des ausgehenden 20. Jahrhunderts, auch wenn es - wie er leider etwas zu oft beklagt - nicht so viele zugeben wollen. Doch wer das Werk des in wenigen Wochen 77 Jahre alt werdenden Künstlers kennt, der kann verstehen, warum dieser so oft, auf das Thema Plagiat kommt. Wen wundert es, dass bei solch einem kreativen Potential und einer über 55jährigen Produktion zahlreiche Arbeiten und Ideen von anderen Kunstschaffenden - bewusst oder unbewusst - wieder aufgegriffen werden...
  
Timm Ulrichs ist ein Kunst-Besessener und seine Totalkunst daher nur konsequent. Die Tätowierung auf seinem Augenlied ist legendär. 1961, als 21jähriger, erklärte er sich zum „ersten lebenden Kunstwerk“ und organisierte 1966 eine öffentliche „Selbstausstellung“ in Frankfurt am Main. Dass sein Werk, sein kritischer wie humorvoller Ansatz über seine eigenen Arbeiten hinaus Spuren hinterlassen wird, ist nicht zuletzt seiner umfangreichen Lehrtätigkeit geschuldet. 

Über seine Ausstellungen hinaus war Ulrichs als Lehrer in der Kunstwelt präsent. Er prägte zahlreiche Studierende und das über 35 Jahre. Von 1969 bis 1970 als Gastprofessor an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig und von 1972 bis 2005 Professor für Bildhauerei und Totalkunst am Institut für Kunsterzieher in Münster, seit 1987 die sogenannte Staatliche Kunstakademie Münster).


Geht uns manchmal auch so, die Arbeit 'Ich kann keine Kunst mehr sehen' von Timm Ulrichs aus dem Jahre 1975. © Timm Ulrichs, VG Bild-Kunst

Ich kann keine Kunst mehr sehen, klagte Ulrichs schon seit 1975, verkleidet als Blinder mit ernstem Blick, im Trenchcoat mit Blindenstock und -binde am linken Arm. Eine Arbeit, die oft als eindimensionaler Kalauer verstanden wird und als Postkartenmotiv im Shop zahlreicher Museen der deutschsprachigen Kunstszene zu finden ist. Wir glauben aber, dass die Arbeit mehr als der meist kolportierte Schenkelklopfer-Blindenwitz ist.


Jetzt aber genug über den Toatlkünstler von unsere Seite, es folgt der Text von Nico Anklam anlässlich der Ausstellung bei WENTRUP:

'WENTRUP freut sich die vierte Einzelausstellung von Timm Ulrichs zu präsentieren. Gezeigt wird die titelgebende Fotoserie Die Welt im Wohnzimmer. Das Fernsehgerät als Sockel und Hausaltar, 2001/09, sowie sieben kinetische Schaukelstühle, Außer Atem, 1989/95/96, und eine Auswahl der Tableau-Serie Versteinerter Himmel, 1983/96/97. Ausgeklügelt verknüpft der Totalkünstler und Konzeptkunstpionier Themen wie Behausung, Wohnung, Interieur, Mobiliar und mediale Vernetzung. Durch Eingriffe in Material und Funktion entstehen die für Ulrichs bekannten Verschiebungen des ästhetischen, historischen und sozialen Referenzrahmens von Alltagsgegenstand und Kunstwerk.

Die Welt im Wohnzimmer. Das Fernsehgerät als Sockel und Hausaltar zeigt Aufnahmen von Interieurs aus Wohnungen des slowenischen Städtchens Slovenj Gradec. Ulrichs hatte 2009 hier im Rahmen einer Ausstellung um Zugang zu privaten Räumen gebeten. Die daraus resultierenden Aufnahmen setzen immer die Oberkante des Fernsehgeräts als Horizontale in der Bildmitte fest. Auf den Fernsehern stehen allerlei Objekte, von der Trockenpflanze über Teddybären bis zur Marienstatuette. Unter der mittigen “Horizontlinie” summt wiederum radikal angeschnitten das Fernsehbild. Von der Sportreportage zum Nachrichtenkanal oder Wildlife-Doku – im Moment der Aufnahme liefen verschiedenste Programme, die unerwartete Karambolagen von Objekt und Bild produzieren. Das quadratische Format der Abzüge spielt hier einerseits auf die frühen Röhrenbildschirme an, die annähernd gleiche Kantenlängen hatten. Diese wurden rezent ersetzt durch immer weiter ausladende Horizontalen des Flachbildschirms und stehen auch im Kontrast zum extremen Hochformat auf Pads und Telefonen der letzten Jahre. Andererseits ist Die Welt im Wohnzimmer im Quadrat auch formal zwischen Porträt und Landschaftsdarstellung angesiedelt. Timm Ulrichs entwirft in diesem Sinn ein Porträt der Wohnungsbesitzer und dokumentiert gleichzeitig eine häuslich-mediale Landschaft. Matthias Reichelt identifiziert treffend im Katalogbeitrag wie drei muskelbepackte Bodybuilder auf der Mattscheibe zu Atlanten werden. Hier tragen sie jedoch nicht den Erdball auf ihren Rücken, sondern schultern eine Welt aus Stoffblumen, Porzellanelefanten oder einem Babyfoto im Goldrahmen. Die Welt im Wohnzimmer ist aber auch eine sozial-anthropologische Sicherung von einer bald verschwundenen “kulturellen Praxis, den Röhrenfernseher als Sockel zu verwenden”, wie Reichelt schreibt. Im Fernsehgerät der Nachkriegszeit kondensierte sich ein sozialer Versammlungsort, dessen Rolle zuvor die häusliche Feuerstelle oder der Kamin einnahm. Gerry Schums TV-Galerie ließ mit einem Beitrag von Jan Dibbets an acht aufeinanderfolgenden Tagen im Jahr 1969 das Fernsehprogramm für ein paar Minuten verschwinden und zeigte stattdessen ein Kaminfeuer. Das mediale Portal zur Welt schloss sich unverhofft und brachte die Betrachter in ihr Wohnzimmer zurück, wo ein Feuer im Kasten loderte. Als Präsentationsfläche für Familienfotos, Kitschobjekte und Devotionalien ersetzte der Fernseher das Klavier oder die Kommode, die im bildungsbürgerlichen respektive Biedermann’schen Salon, die bis dahin bevorzugte Abstellfläche für solche Objekte waren. Ulrichs’ Fotografien setzen dieser angesichts des Flachbildschirms fast vergangenen Praxis ein Denkmal.



Ein Screenshot der WENTRUP Website mit Arbeiten von Timm Ulrichs. Zu sehen ist ein Ausschnitt der Timm Ulrichs Performance 'Der Künstler als Aufseher' von 2009. © WENTRUP Gallery und Timm Ulrichs, VG Bild-Kunst

Zentral im Ausstellungsraum installiert ist Außer Atem. Bestehend aus einer Serie von sieben identischen Schaukelstühlen, die wie oft bei Ulrichs’ Möbelwerken eine prototypische Reinform anbieten. Ihre einfache und klare Formsprache erinnert an die nordamerikanischen Shaker-Stühle, wo sich auch historisch die Genese des Schaukelstuhls verorten lässt. In Kollaboration mit einem Drechsler aus Hartholz gebaut und in Grau gefasst, erfahren die Stühle jedoch einen entscheidenden Eingriff. Allen wurde ein Axial-Ventilator in der Rückenlehne eingebaut, dessen Gehäuse zur Sitzfläche zeigt und die Luft damit rücklings aus den Stühlen strömen lässt. Timm Ulrichs anthropomorphisiert den Stuhl, der nun selbst vor sich hin schaukelt. Oft löst Ulrichs in seinem Oeuvre den Stuhl aus seiner passiven Rolle und stattet ihn mit eigenem Handlungspotential aus. Die Installation Außer Atem steht insofern auch in Verbindung zu einer seiner bekanntesten Arbeiten: Der Sitzende Stuhl (nach langem Stehen sich zu Ruhe setzend) von 1970. Außer Atem rückbezieht sich auch auf die Geschichte der kinetischen Kunst, die entweder eines maschinellen Antriebs bedurfte oder sich der Naturelemente wie Wind bediente, um in Bewegung zu kommen. Timm Ulrichs’ Schaukelstühle Außer Atem verbinden beides.

Die Ausstellung Die Welt im Wohnzimmer schließt mit einem sinnbildlichen Blick aus dem Fenster. Timm Ulrichs inszeniert farbige Marmor- und Granitplatten als Versteinerten Himmel. Marmor aus Finnland kann Grün sein, portugiesischer Marmor kann wie der italienische ein helles Rot annehmen, während griechischer und makedonischer neben dem bekannten Carrara-Marmor ein helles Grau bis zu einem strahlenden Weiß entwickelt. Ulrichs rahmt quadratische Zuschnitte von verschiedensten Steinarten, und deren Adern tragen neben der Farbigkeit dazu bei, dass unweigerlich der Eindruck von Wolken zu verschiedenen Tages- oder Jahreszeiten am Himmel entsteht. Die hochwertigen Steinplatten sollten Timm Ulrichs dabei helfen, Landschaftsmalerei zu betreiben ohne malen zu müssen, wie er selbst sagt. Ulrichs stellt den Himmeln nun einen aus dem öffentlichen Raum bekannten Verbundstein der Gehwegpflasterung anbei. Wenn nicht flach als Kantenabschluss gelegt, sondern aufgestellt, werden die billigen Pflastersteine zu Steinhäusern mit Giebeldach, hinter denen sich ein unendlicher, steinerner Himmel erstreckt beim Blick hinaus aus dem Wohnzimmer.

Die erste Einzelausstellung von Timm Ulrichs (geboren 1940 in Berlin) fand 1969 im Museum Haus Lange in Krefeld statt. Im gleichen Jahr nahm Ulrichs außerdem an der von Konrad Fischer kuratierten Ausstellung “Konzeption – conception” im Museum Morsbroich in Leverkusen statt, die Konzeptkunst in Deutschland bekannt machte. 8 Jahre später nahm Timm Ulrichs an der documenta 6 in Kassel teil. In den vergangenen 50 Jahren hatte Timm Ulrichs zahlreiche nationale und internationale Einzel- und Gruppenausstellungen in Institutionen wie dem Museum Folkwang, Essen, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, Haus der Kunst, München, Museum für Konkrete Kunst Ingolstadt, Kunsthalle Düsseldorf, ZKM Karlsruhe, Staatsgalerie Stuttgart oder der Kestnergesellschaft Hannover in Deutschland. Hinzu kommen das Stedelijk Museum in Amsterdam, Holland, das Centre Pompidou, Paris, Frankreich und das Museum der Moderne in Salzburg, Österreich. Zu seinem 70. Geburtstag 2010 ehrten ihn das Sprengel Museum und der Kunstverein Hannover mit einer umfassenden Retrospektive.


(...).'


Service und Links
Timm Ulrichs - Die Welt im Wohnzimmer
Vernissage Freitag, 10. Februar, dann noch bis zum 15. April 2017

WENTRUP Gallery
Tempelhofer Ufer 22
10963 Berlin-Kreuzberg
 

- Timm Ulrichs bei WENTRUP, hier 
- Literatur von und über Timm Ulrichs, hier
- mehr über Timm Ulrichs, hier

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